Retrospective 1989 oder “Eleven-Nine”
Hey, heute ist der 9. November und es jährt sich, gefühlt zum fünfzigsten aber real zum siebzehnten Mal der Tag, an dem Mister Schabowski die Mauer quasi mit dem Hintern im vorbeigehen („Huch!“) einriss. In diesen Tagen sind die Medien wieder voll von Rückbesinnung – die beiden anderen schicksalshaften Ereignisse des deutschen 9. Novembers (Republikausrufung 1918 und Reichskristallnacht 1938) gehen dabei irgendwie immer bisschen unter. Jedenfalls ist es auch für mich Zeit der Erinnerung wie das damals war im heißen Herbst 1989.
In diesem Herbst 1989 hatte ich das schwere Los eines Erstsemesters an der damaligen Karl-Marx-Universität Leipzig begonnen, welches mit Apfelernte, Marxismus-Leninismus-Vorlesungen und Arbeitseinsätzen zum 7. Oktober (dem 40. Jahrestag der DDR) begann. Naja, was sollte man auch sonst tun – Sonnenstudios gabs nicht, Shoppen gehen war nicht so ergiebig und Autoputzen war ohne Auto auch eher ineffektiv.
Leipzig war im Frühherbst ´89 kalt und versmogt (heute sind viele da versnobt). Ich erinnere mich an quietschende Straßenbahnen, abrissreife leerstehende Gründerzeithäuser und dieses ewige orangene Licht der Straßenbeleuchtung, das gegen den Smog-Nebel ankämpfte. Aber es war schön. Und es kamen neue Eindrücke: LKW´s voller Bereitschaftspolizisten mit Helm und Schild in Nebenstraßen im Zentrum, über zwei Stunden ins Wohnheim laufen weil Montagabend demobedingt keine Straßenbahn mehr fuhr, thermokopierte Zettelchen mit Forderungen oppositioneller Gruppen und eine Studentenparty bei der laut aus dem „Neuen Deutschland“ (dem Zentralorgan der SED) vorgelesen wurde. Und alle lachten über die Mentholzigarettenstory.
Dann begann sich alles rasant in seine Bestandteile aufzulösen. Kurzzeitige Gegenbewegungen wie die Unterschriftensammlung „Für unser Land“ oder von alkoholisierten Deutschland-Fans mit Schlägen bedrohte pro-DDR-Gruppen innerhalb der Montagsdemos gerieten in den unaufhaltsamen Sog der Geschichte und ein dicker Kanzler deckte sie mit ebenjenem Mantel zu.
Schabowskis Zettelchen war dann nur noch ein kleiner Akt – sozusagen das i-Tüpfelchen auf dem Haufen – der früher oder später sowieso geschehen wäre, in diesem Falle war es dann wohl früher. Mir schien es damals egal, wann da irgendwelche Grenzen, die ich höchstens aus dem Atlas kannte, geöffnet wurden. Viel aufregender fand ich die Entwicklungen innerhalb des Landes. Die erste Fahrt in den „Westen“ zeigte dann oft peinliche Landsleute und einen bunten Intershop, der die Dimensionen eines ganzen Landes einnahm. Spalierstehende Einheimische steckten den Einreisenden jubelnd und applaudierend Bananen zu. Zuhause staute sich die Schlange bis zum über 30 km entfernten Grenzübergang. Tankstellen wurden belagert und leergesaugt ….
Aber es war – um mal eine aktuelle Band, für die DDR maximal die Bezeichnung eines Speicherchips ist zu zitieren „Eine geile Zeit.“